Wir leben im patriarchalen Kapitalismus, eine Zeit, die von Leistung geprägt ist. Auch meine Generation, die Millenials, wurden noch so erzogen, dass nichts wichtiger war, als zu funktionieren, um so früh wie möglich Geld zu verdienen. Auch sollte man es nicht scheuen, seine Ellenbogen zu benutzen, um die anderen, die das Gleiche wollten, zu verdrängen. Konkurrenzdenken galt nicht nur als überlebensnotwendig sondern als smart und chic. Kein Wunder, dass wir dem Leistungsgedanken also alles unterordnen: unsere mentale und körperliche Gesundheit, unsere Verbindungen zu Freunden und Familienmitgliedern, unser Verhalten im Job und in romantischen Beziehungen und letztlich unser ewiges Bemühen ein perfektes Image präsentieren zu können. Jegliche Schwächen in uns, alles was von außen mit einer gerümpften Nase bewertet worden ist, verstecken wir tief unten in unserem Abgrund.
Was ist heute noch von dir übrig? Erinnerst du dich an all die versteckten Anteile in dir? Wer bist du wirklich?
Die Antwort auf die Frage nach wahrer Authentizität finden wir in den Momenten, in denen uns niemand anderes sehen und hören kann. Wenn wir alleine sind, kommen unsere „dunklen“ Anteile, unsere Schatten, zum Vorschein, weil wir niemandem beweisen müssen, dass wir perfekt sind. Was tust du dann? Nehmen wir an, du liegst alleine auf deinem Sofa und schaust fern. Seit Stunden. (Tagen?) Kann es dann auch mal vorkommen, dass du in deiner Nase popelst? Ja? Und wie entsorgst du dann den Popel?
In Gesellschaft greifen oder fragen wir höflich nach einem Taschentuch, weil wir genau wissen, dass Popeln nicht gerne gesehen wird. Und genau so ist es mit allen anderen Verhaltensweisen in uns, die vielleicht weniger harmlos sind, als der Umgang mit unseren Körperflüssigkeiten.
Man kann seine verdeckten Persönlichkeitsanteile kennenlernen und aufarbeiten, zum Beispiel mit dem inneren Familiensystem (IFS) von Richard C. Schwartz. In seinem Buch „Kein Teil von mir ist schlecht“ stellt Schwartz die These auf, dass alle Anteile in uns unablässig miteinander interagieren und diesen Vorgang bezeichnen wir als „Denken“.
Ich glaube daran, dass wir uns besser und friedlicher fühlen, wenn wir damit aufhören, ein perfektes Image nach außen zu zeigen. Denn wir sind keine perfekten Menschen, so etwas gibt es nicht. Stattdessen laufen wir durch unser Leben und zahlen einen hohen Preis dafür, dass wir einen Großteil unserer Persönlichkeit vor unseren Mitmenschen verstecken müssen. Die meisten von uns können das so gut, dass sie im Laufe der Jahre schon selbst gar nicht mehr erkennen können, welche Teile das sind und nicht einmal dann, wenn sie allein sind, können diese Anteile atmen. Stell dir nur einmal vor, was für ein unfassbar großer Energieaufwand es sein muss, sich zu verstellen, um anderen zu gefallen. Was könntest du alles mit dieser Energie, die du dann zur Verfügung hättest, machen? Wie würde sich dein Leben anfühlen und verändern, wenn du dich trauen würdest, vollständig du zu sein? Würdest du dich endlich frei fühlen? Wer würde bleiben und dich weiterhin lieben, wer würde dir den Rücken kehren? Warum hat man uns beigebracht, dass es gefährlich ist, authentisch zu sein?
Schreibe einen Kommentar